Roman „Väter sind Täter“

Aus dem Tagebuch eines Vaters,der seine Tochter missbrauchte

Sie malt gern Bilder von sich selbst
und riesengroßen Männern in einer Zwergenwelt.
Sie weiß Geschichten, die sie nie erzählt,
die meisten davon hat sie selber erlebt.
Wie die vom bösen Wolf,
der hin und wieder kommt
und jedes Mal danach von ihr verlangt,
dass sie niemals ein Sterbenswörtchen sagt,
weil er sie dafür sonst fürchterlich bestraft.
Die Toten Hosen, Böser Wolf

Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden. Vielleicht ist es sein geheimer Wahn, seine geheime Perversion oder ganz schlicht der unbewältigte Teil seines Kinderleidens. Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden, sind seine Kinder.
Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Die Bibel, Johannes Kapitel 8, Vers 7

Nur wer die Ohnmacht kennt, weiß die Macht wirklich zu genießen.
Verfasser des Tagebuchs


Prolog

Ich sitze auf diesem Holzbett, das ich mir mit Susanne teile, der Frau, die ich liebe, mit der ich einmal alles teilen wollte. Es ist ein einfaches Bett, aus hellem freundlichem Holz geschnitzt. Ich wollte damals alles hell und freundlich und ikeamäßig haben und an nichts anderes mehr denken. Doch jetzt, jetzt sehe ich dieses ganze Dunkle wieder vor mir. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, winkle die Beine an und mache mich ganz klein. Ich werde die Bilder nicht los. Doch noch schlimmer als die Bilder ist diese Stille. Ich halte mir die Ohren zu, doch ich höre sie noch immer.

Ich bin wieder auf diesem Bauernhof. Die Möbel sind uralt. Alles dunkles abgeblättertes Holz, das Sofa hart und ungemütlich und zerschlissen, zwei einfache Matratzen liegen auf dem nackten Dielenboden im Kinderzimmer. Wir sind sieben Geschwister, jede Nacht ist es eng und im Winter eisekalt. Die Fenster sind klein, drinnen herrscht immer Dämmerung oder Dunkelheit. Überall auf dem Anwesen ist es vermüllt und eklig. Wir stinken alle. Jeden ersten Sonntag im Monat füllt Mutter den Kübel draußen mit Wasser und wir müssen Kinder hinein, alle sieben nacheinander. Mutter schrubbt uns mit Seife ab und sorgt dafür, dass wir einmal ganz untertauchen. Am Ende steigt sie selbst ins Wasser. Danach sehe ich in den Kübel, es ist alles schwarz. Vater badet nur im Fluss, für ihn ist der Kübel was für Weicheier. Nach dem Baden schlüpfen wir alle wieder in unsere tausendmal geflickten Klamotten.

Fritzchen ist mein Lieblingsbruder. Er ist nur 13 Monate jünger als ich und wir sind immer zusammen unterwegs. Fritzchens ganzes Gesicht kann strahlen wie die Sonne, seine Haut, seine blauen Augen, seine goldenen Haare, alles scheint von innen heraus zu leuchten, sein Lachen ist warm und ansteckend, manchmal kann er gar nicht aufhören damit. Fritzchen bringt die erwachsenen Dorfbewohner – die uns Kinder normalerweise komplett ignorieren – dazu, ihm lächelnd zuzuwinken. Mutter schimpft mit ihm, wenn sie die Küche putzt und er singend auf dem Besen durch den Raum reitet anstatt mit anzupacken. Doch selbst sie kann ein Schmunzeln hin und wieder nicht unterdrücken.
Natürlich ist Fritzchen nicht immer fröhlich, aber er kehrt immer wieder dahin zurück, wo man fröhlich sein kann, als sei das der natürlichste Zustand der Welt. Ich bin der Ältere, an dem er sich orientiert, ich entscheide meist, was wir machen, doch er ist es, der mich mitreißt, wenn er plötzlich wieder etwas Spannendes und Wundervolles entdeckt, etwa eine Ameisenstraße, eine interessante Spiegelung im Fluss oder die Möglichkeit, sich komplett im Heu zu verbuddeln.
An jenem Tag ist Fritzchen fünf Jahre alt und ich sechs. Wir sitzen abends am Küchentisch, Vater trinkt schon den ganzen Tag Selbstgebrannten. Er ist aufgeräumt und guter Laune, was selten vorkommt. Infolgedessen sind wir alle relativ entspannt.
Tags zuvor hat Mutter ein Schwein geschlachtet und für jeden von uns ist ein kleines Stück Fleisch vorgesehen. Morgen wird Mutter den Rest des Schweins auf dem Markt verkaufen. Die Mahlzeit verläuft friedlich, wir kauen alle genüsslich. Als Kind denke ich unentwegt an Essen, es gibt immer zu wenig davon. Damals in der Küche esse ich ganz langsam, zuerst die Kartoffeln und die Möhren, und dann – Stück für Stück – das Fleisch. Ich weiß noch, dass ich denke, genauso muss es im Himmel schmecken.
Dann holt Vater die Schokolade aus der Vitrine hinter dem Geschirr hervor. Mutter kauft ihm alle paar Wochen eine Tafel davon im Dorf und er isst sie genüsslich über Tage verteilt, in Riegel und einzelne Stücke eingeteilt. Er betont immer wieder, dass so etwas nichts für Kinder sei. Schokolade solle dem Familienernährer vorbehalten bleiben. Keiner wagt je einzuwenden, dass Mutter, seit wir denken können, die Haupternährerin der Familie ist.
”Es fehlt ein Stück!” Er schlägt mit der Faust auf den Tisch und dann in einer einzigen Bewegung sein Geschirr und das von Mutter auf den Boden, wo es krachend zerschellt. ”Wer war das?” Seine Stimmung ist in Sekundenbruchteilen umgeschlagen. Wir sind sofort in einem Zustand höchster Anspannung, mir bleibt der letzte Bissen Fleisch im Halse stecken. Wir erstarren wie die Kaninchen. Mein erster Gedanke ist: Zum Glück erst jetzt, und nicht vor dem Essen…
Vater springt auf und schreitet tobend durchs Zimmer. ”Wenn ihr mir nicht sofort sagt, wer das war, kriegt ihr alle eine solche Tracht Prügel, dass ihr morgen nicht mehr laufen könnt.”
”Lass doch…”, murmelt Mutter in Richtung Vater, doch ihre Stimme ist viel zu leise, als dass er sie durch sein Gepolter hören kann.
”Alles Missgeburten hier, beklauen ihren eigenen Vater…” Er nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Schnapsflasche. Dann holt er den Rohrstock hinter der Dielentür hervor.
”Er war´s”, sagt meine große Schwester Adele leise und zeigt auf Fritzchen. Der fängt an zu heulen und nuschelt Unverständliches.
”Sehr gut, wenigstens einer in diesem Rattenpack hält zu mir.” Vor aller Augen geschieht das Unglaubliche. Vater gibt Adele ein Stück Schokolade. Zögernd nimmt sie es in den Mund. Ich glaube nicht, dass sie danach je wieder Schokolade gegessen hat. Teile und herrsche– dieses Prinzip hat er perfekt drauf. Bei Fritzchen und mir ist das irgendwie anders, aber wir andern Kinder verpetzen uns dauernd gegenseitig, lauern uns auf und hassen uns untereinander weit mehr als wir ihn hassen. Ihn fürchten wir viel zu sehr, um ihn zu hassen.
Ich weiß, dass Adele morgen noch laufen können will. Sie ist 15 und hat ein heimliches Date mit einem Stallburschen aus dem Nachbardorf, in den sie seit Monaten verknallt ist. Fritzchen nuschelt immer noch unter Tränen. ”Ich war´s nicht”, glaube ich zu verstehen. Er hat noch vor ein paar Tagen vor uns Geschwistern verkündet, dass es sein größter Wunsch sei zu wissen, wie Schokolade schmeckt. Das macht ihn zumindest verdächtig.
”Komm her, Junge! Ich werd dir zeigen, was es auf Schokoladendiebstahl gibt! Wir zwei werden jetzt ein wenig plaudern.” Vater geht los in Richtung Stall, er grinst dabei wie der Teufel selbst und streichelt fast schon liebevoll über seinen Rohrstock.
Fritzchen steht zögernd auf und setzt sich in Bewegung. Er wirft einen Blick auf Mutter, doch die hat die Hände gefaltet, starrt auf den Tisch und betet lautlos ein Ave Maria. Dann sieht er mich an, auch ich schaue weg. Ich weiß noch, dass ich unglaublich erleichtert bin, dass die bedrohliche Situation in der Küche vorüber ist, jetzt wird einer Prügel bekommen und in einer halben Stunde ist alles wieder in Ordnung. Ich bin total froh, dass nicht ich der eine bin.

Wir bleiben am Tisch sitzen, schauen einander nicht an und hören alle die Schreie aus dem Stall. Fritzchen schreit aus Leibeskräften. Auch Vaters polterndes Lachen ist zu hören. Mutter starrt ausdruckslos vor sich hin, nur die Bewegungen ihrer Lippen werden immer schneller. Irgendetwas ist anders als sonst. Tanja, die Jüngste, hat sich auf ihrem Stuhl ganz klein gemacht und hält sich die Ohren zu. Adele schaut mit teilnahmslosem Blick aus dem Fenster, ich weiß, sie denkt an ihr Date. Sie versucht sich immer weg zu beamen, sie hat mir schon oft erklärt, wie das geht, doch es gelingt mir nie.
Plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Ich springe auf – und halte mitten in der Bewegung inne. Die andern starren mich an, doch ich setze mich wieder hin. Ich will meinem Lieblingsbruder zur Hilfe eilen, er ist klein und zierlich, ich bin etwas größer und kräftiger. Vater soll mich verprügeln. Ich müsste nur dazwischen springen, Fritzchen könnte weglaufen, Vater ist inzwischen in diesem Zustand, in dem es ihm egal ist, wen er wofür prügelt. Aber ich kann nicht in den Stall gehen, ich sitze wieder auf meinem Stuhl und bin wie fest gewachsen. Ich bin einfach unglaublich feige.
Ich lausche auf das Schreien und Wimmern meines Bruders. Dann hört man ein richtig lautes Krachen. Und plötzlich ist es ganz still. Und nach einem Moment bangen Wartens ist es immer noch ganz still. Man könnte das Fallen einer Feder hören, die Stille ist ohrenbetäubend. Sie zerdrückt mich.
”Mann, was ist das denn für ´ne Scheiße!”, hört man schließlich Vater fluchen. Es scheppert, der Rohrstock ist auf dem Boden gelandet. Dann tritt Vater hinaus auf den Hof, reckt sich und bleibt unschlüssig stehen. Adele starrt noch immer aus dem Fenster, aber sie ist leichenblass geworden. Plötzlich kommt Bewegung in Mutter. Sie springt auf, rennt in den Stall und kommt kurz darauf kreischend und heulend wieder hinausgelaufen. Sie läuft direkt auf Vater zu, schlägt mit ihren Fäusten auf ihn ein. Ihr Kreischen ist nicht zu verstehen. Vater schaut sie ausdruckslos an, lässt sich ihre Schläge gefallen. Erst nach einer langen Weile hält er ihre Hände fest und blickt ihr fast schon beschwörend in die Augen: ”Es war die Kuh, beim Melken, sie hat ausgetreten, ein Unfall, hörst du, es – war – die – Kuh.”
Mutter schreit noch einmal schrill auf, dann rennt sie an uns vorbei ins Eltern-Schlafzimmer. Vater läuft ihr nach, hält aber abrupt inne, als er uns bemerkt: ”Ab ins Bett, was sitzt ihr hier noch so herum. Los jetzt!” Er geht in den Keller, eine neue Flasche Schnaps holen, und wir laufen hoch ins Kinderzimmer.
Keiner von uns spricht ein Wort, wir sehen uns nicht an, lautlos ziehen wir uns aus und legen uns hin. Ich weiß noch, dass ich sofort die Augen zumache und wahnsinnig angestrengt versuche einzuschlafen, als könne ich alles ungeschehen machen, wenn ich es nur schaffe einzuschlafen. Als würde Fritzchen dann morgen früh wieder neben mir aufwachen. Ich bin mir sicher, dass es gar nicht anders sein kann. Und da ist dieser Reim in meinem Kopf, den ich in Gedanken pausenlos wiederhole, wie ein Mantra, ohne den Inhalt wirklich zu verstehen. Immer wieder, wie Schäfchenzählen, Väter sind Täter, Väter sind Täter, Väter sind Täter.
Heute ist es nicht ganz so eng auf den beiden zusammengeschobenen Matratzen.


November 2004

„Du nervst! Geh spielen!” Die Kleine turnte auf meinem Schoß herum, unsanft setzte ich sie ab.
„Was ist denn los mit dir? Sei doch nicht so ruppig!” Susanne sah mich an, eher verwundert als wütend. Sie nahm Sophie in den Arm.
Wenn ich ihr darauf bloß eine Antwort geben könnte… Ich wusste es ja selbst nicht recht. Ich saß mit meiner Frau und meiner fünfjährigen Tochter auf dem Sofa vor dem Fernseher – und konnte meine Tochter nicht mehr in den Arm nehmen. Doch es stimmt nicht, dass ich nicht wusste, warum dies nicht mehr ging.
Selbst hier und jetzt fällt es mir schwer, es aufzuschreiben, dabei bin ich allein in meinem Arbeitszimmer und dies ist die erste Seite eines passwortgeschützten Word-Dokuments, das ich Tagebuchgenannt habe. Seit ein paar Wochen erlaube ich mir, diese Sätze zu denken, aber sie aufzuschreiben ist nochmal etwas anderes:
Ich steh auf meine eigene Tochter. Oder: Meine fünfjährige Tochter weckt sexuelle Gefühle in mir. Oder auch: Ihr kleiner Körper macht mich einfach nur total geil, so geil, dass ich kaum noch an etwas anderes denken kann.
So, jetzt ist es raus, sollte irgendjemand diese Zeilen einmal lesen, kann er mich verachten und verurteilen. Dabei sollte er jedoch bedenken, dass keiner mich so sehr verachtet und verurteilt wie ich selbst es tue.

Es fing alles vor etwa zwei Monaten an. Es war Sonntagnachmittag, draußen goss es schon den ganzen Tag in Strömen und ich saß mit Sophie auf unserm flauschigen Wohnzimmerteppich. Gerade hatten wir eine Partie Memory beendet. Und weil Sophie sich so über ihren Sieg freute, ließ ich mich in gespielter Verzweiflung auf den Rücken fallen: „Betrug, du hast geschummelt!“
Sophie war sofort auf mir und kitzelte mich am Hals: „Hab ich gar nicht, ich hab eben ein besseres Gedächtnis als du!“ Ich kitzelte sie zurück, so dass sie von mir abließ und sich kichernd und glucksend auf dem Boden zusammenkrümmte. Ich glaube, dies war der Moment, in dem ich das komische Gefühl zum ersten Mal wahrnahm. Es war eigentlich nicht komisch, sondern schön, aber es passte irgendwie nicht. Erst später, als wir durch die Wohnung rannten und Fangen spielten, wusste ich plötzlich, was es war: Es war Erregung, sexuelle Erregung. Der Gedanke irritierte mich, erschreckte mich auch, aber ich sagte mir, dass das Zufall sein musste, Susanne und ich hatten schon länger nicht mehr miteinander geschlafen, wahrscheinlich hatte ich einfach Lust. Später, als wir uns zu dritt noch ein Fotoalbum ansahen, hatte ich die Begebenheit längst wieder vergessen.

Erst spät am Abend traf mich die Erkenntnis in ihrer vollen und eisigen Wucht. Ich hatte noch etwas länger ferngesehen und kroch danach zu meiner Frau ins Bett. Susanne drehte sich im Halbschlaf zu mir um und ich nahm sie in den Arm. Es fühlte sich gut an, Susanne fühlte sich immer gut an, auch nach all den Jahren fand ich sie noch wunderschön. Doch das war alles. Ich fühlte mich kein bisschen erregt, und dies war nicht nur heute so. Im Grunde hatte ich seit Monaten keinerlei erotische Gefühle mehr für Susanne, unser eingeschlafenes Sexualleben ließ sich im Grunde nur auf eine Unlust meinerseits zurückführen.
Ich wollte das nicht denken, ich wollte an irgendetwas anderes denken an diesem Abend im Bett neben meiner Frau, die ich liebte – ganz sicher – und die ich nicht mehr begehrte.

Am nächsten Morgen wachte ich schweißgebadet auf. Ich hatte geträumt, von ihr, von meinem süßen kleinen Engel, den ich über alles liebe und für den ich jederzeit mein Leben geben würde. Ich meine jetzt die väterliche Liebe. Ich weiß noch, wie ich sie nach der Geburt in den Arm nahm und mir selbst versprach, sie zu beschützen, vor allem Bösen und für immer. Vor allem Bösen? Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, was „das Böse“ war und wo es lauerte.
Ich hatte von ihr und mir geträumt. Den Inhalt möchte ich jetzt nicht wiedergeben. Es genügt zu sagen, dass er mich zu Tode erschreckte.
Fast jeder hat schon mal Träume, die so intensiv sind, dass man auch nach dem Wachwerden noch völlig in dem Traumgefühl gefangen ist. Ich kannte das, hatte aber noch nie so darunter gelitten wie an diesem Morgen.
Ich ließ mir viel Zeit im Bad, versuchte dieses Gefühl weg zu duschen, ich duschte heiß und kalt, immer im Wechsel. Und doch, auf dem Weg in die Küche, wo Susanne und Sophie schon am Frühstückstisch auf mich warteten, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Es– das waren, ich kann es nicht anders nennen, Schmetterlinge im Bauch. Ich fühlte mich wie frisch verliebt, voller Vorfreude bei dem Gedanken, wie Sophie mich, ihren geliebten Papa, gleich anschauen und mit einem Guten-Morgen-Kuss begrüßen würde. Damit man mich nicht falsch versteht, dieses gute Gefühl war ein ganz kurzes Aufflackern auf dem ganz kurzen Weg in die Küche. Sofort war der Kloß wieder da, ich wollte das nicht fühlen, ich durfte das nicht fühlen.
Ich weiß nicht, wie das bei andern missbrauchenden oder potentiell missbrauchenden Vätern ist, aber ich denke, dass es Vielen so ergeht wie mir. Es ist nicht immer so einfach wie es von außen aussieht: Böser Vater wird scharf auf sein Kind, will Macht oder sonst was empfinden, und los geht´s. Ich war verdammt verzweifelt.

Ich habe mir Gedanken gemacht, nächtelang, tagelang, wochenlang. Ich bin Leiter eines kleinen Verlagshauses, kein Therapeut oder sowas, aber ein bisschen Küchenpsychologie habe auch ich mir im Laufe meines Lebens angeeignet.
Was hat sich bei uns in letzter Zeit verändert? Garnichts Besonderes würde ich sagen. Susanne hat die letzten Jahre beruflich pausiert und sich um Sophie und den Haushalt gekümmert. Seit ein paar Monaten arbeitet sie wieder in Teilzeit in ihrem alten Beruf als Grundschullehrerin. Sicher, mein Heimkommen ist nicht mehr der Höhepunkt ihres Tages wie in den letzten Jahren. Susanne macht ihr Job Spaß, sie geht darin auf. Manchmal hat sie abends gar keine Lust mehr, sich anzuhören, was bei mir am Tag so passiert ist. So wie es mir mit ihren Schulstorys auch zuweilen geht.
Sophie hingegen vergöttert mich, sie ist ein absolutes Papakind, ich bin sozusagen der König ihrer Welt. Sie lässt alles stehen und liegen, wenn ich am späten Nachmittag nach Hause komme, egal was es ist. Selbst ihre Freundinnen vergisst sie einfach, obwohl Susanne ihr schon oft genug gesagt hat, dass es unhöflich ist, wenn sie sich plötzlich nicht mehr um ihren Besuch kümmert. Schmeichelt mir das? Hebt es meinen Selbstwert? Wahrscheinlich schon. Ist das eine Erklärung? Dafür, dass ich plötzlich pervers werde?
Wenn man wollte, könnte man natürlich noch die Gene oder meine eigene Kindheit in die Ursachenforschung mit einbeziehen. Ich will nicht. Es ist mir eigentlich sowieso egal, woher es kommt. Diese Überlegungen haben ohnehin überhaupt keinen Einfluss auf meine Gefühle. Ich will einfach nur, dass es wieder aufhört.

An diesem Morgen vor ein paar Wochen fing es an, dass ich Sophie den Begrüßungskuss, auf den ich mich auf dem Weg zur Küche noch gefreut hatte, verweigerte und sie auch nicht in den Arm nahm. Diese Gefühle durften nicht sein, ich musste Abstand nehmen.
Sophie, die nichts mehr liebte, als mit ihrem Vater zu knuddeln, wurde quengelig und wollte ihr Müsli nicht aufessen. Ich spürte Susannes irritierten Blick in meine Richtung, sie streichelte Sophie über den Kopf: „Der Papa hat sich wahrscheinlich mal wieder die Zähne nicht geputzt. Ich küss den auch nicht!” Sophie lächelte, aber es war nur ein halbes Lächeln. Sie fühlte sich abgewiesen.
Mir war das alles egal, ich wollte einfach nur weg, weg aus dieser Situation, so schnell wie möglich. Mir waren Sophies Gefühle egal, das erste Mal. Ich hatte zu viele eigene. Im Radio lief irgendein bekannter Popsong, ich stellte es etwas lauter, und versteckte mich hinter dem Sportteil der Zeitung, während ich meinen Kaffee hinunterkippte. Dann schützte ich einen Termin vor und brach so schnell es ging auf ins rettende Büro.
Ich hatte niemals die Männer verstanden, die ihren Arbeitsplatz als Rückzugsort und als Erholung von der Familie nutzten. Ich war einfach immer am liebsten mit meiner Frau und meiner Tochter zusammen gewesen.
Doch heute war alles anders.
Ich hatte diese Bilder im Kopf, diese Bilder von Sophie und mir, die mich nicht in Ruhe ließen, den ganzen Tag. Ich telefonierte, schrieb einige Emails, sah die Post durch und führte ein paar Gespräche mit Kollegen. In der Mittagspause ging ich sogar mit zum Italiener. Ich tat alles mechanisch, wie ferngesteuert, der Parallelfilm in meinem Kopf war stärker. Doch meine Arbeit ist mir sehr vertraut, ich glaube nicht, dass man überhaupt einen Unterschied bemerkte.
Irgendwann am späten Nachmittag machten alle Mitarbeiter Feierabend und ich war allein im Büro. Ich saß in meinem schönen braunen Ledersessel und schaute vom zweiten Stock aus dem Fenster hinunter auf die Straße ohne irgendetwas wahrzunehmen. Dann begann ich diese ganzen krassen Begriffe zu googeln, die mir im Kopf herumschwirrten: „Kindesmissbrauch”, „Missbrauchsopfer”, „Pädophilie”, Ich las alles Mögliche, Artikel von Ärzten und Psychotherapeuten, Erfahrungsberichte von mittlerweile erwachsenen Opfern, die volle Dröhnung. Ich wusste schon vorher, dass Missbrauch in der Kindheit einen Menschen für ein ganzes Leben schädigen kann. Aber ich wollte es plastisch wissen, ich wollte Beispiele und persönliche Schicksale. Erst als es draußen schon dunkel wurde, löschte ich den Seitenverlauf der letzten Stunden und schaltete meinen Laptop aus.

Im Nachhinein denke ich, dass meine Aktivitäten an diesem Abend vor allem einem Zweck dienten: Ich wollte die Hemmschwelle erhöhen, mir die Konsequenzen meiner eventuellen Handlungen ganz klar machen.
Vielleicht hielt ich auch nach einem Rettungsanker Ausschau, nach irgendeinem Rat, was ich tun könnte. Aber je mehr ich las, desto verabscheuenswürdiger wurden die beschriebenen Männer für mich. Kinderschänder. Das ist ganz unten. Es gibt nichts Schlimmeres.
Zwei Dinge wurden mir ganz klar: Niemand durfte jemals von meinen Gefühlen erfahren, niemand, und zwar unter garkeinen Umständen. Und ich wollte niemals so ein Kinderschänder werden. Sophie durfte einfach nichts passieren, das musste ich jetzt einfach entscheiden und nicht mehr drüber nachdenken. Dann würden auch die Gefühle aufhören. Die Option, Sophie zu berühren wie in meinen Träumen, war durch. Und Punkt.
Das habe ich an diesem Nachmittag wirklich gedacht. Ich wollte das einfach straight durchziehen.

Das ist jetzt alles etwa zwei Monate her. Es waren die schlimmsten zwei Monate meines Erwachsenenlebens und ich denke manchmal sogar, hätte ich mich doch einfach direkt erhängt.
So wie heute ist es jeden Abend. Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und ich weise meine Tochter ab, Sophie ist enttäuscht, meine Frau irritiert… Aber was soll ich Susanne erzählen? Dass ich mir Tag und Nacht vorstelle, unsere Tochter anzufassen wie eine Frau? Dass ich besessen bin, an nichts anderes mehr denken kann?
Die Gefühle haben nicht aufgehört, keineswegs, und die Option ist auch nicht durch.